Irritationen

14. Januar – 12. März 2017

Véronique Verdet – Objektkunst
Hans Lankes – Messerschnitte

Installation von Véronique Verdet

Veronique Verdet

Messerschnitt von Hans Lankes

Hans Lankes

Irritationen. Dieser Begriff, den wir als Titel der Ausstellung gewählt haben, beinhaltet gleichermaßen Verunsicherung wie auch Faszination; er kann eine verwirrende Rätselhaftigkeit, ein ungläubiges Erstaunen und eine überraschende Erkenntnis bedeuten. Wenn das vermeintliche Bekannte und Vertraute ins Ungewohnte und Unerwartete umschlägt, sind wir irritiert, und gleichzeitig zu einer Auseinandersetzung, zu einer Haltung und Reaktion herausgefordert. Dies gilt nicht nur für heikle zwischenmenschliche Situationen sondern auch und vor allem für ambivalente künstlerische Ausdrucksformen, die uns ebenso ästhetisch und sinnlich wie auch unbequem, sperrig oder gar provokant begegnen.

Mit der Zeichnerin und Installationskünstlerin Véronique Verdet und dem Papierschneider Hans Lankes präsentiert die Ausstellung zwei eigenständige Positionen, deren vielschichtig angelegte Arbeiten das Moment der Irritation wie auch der Interaktion zwischen Werk und Betrachter auf jeweils ganz unterschiedliche Weise in sich tragen.

Véronique Verdet, deren Werke im Obergeschoss zu sehen sind, wird 1967 in Le Cannet in Südfrankreich geboren. Sie wächst in der Provence auf, ist in den Sommermonaten aber häufig in Gaienhofen bei Ihren Großeltern, dem Malerehepaar Gertraud Herzger von Harlessem und Walter Herzger, zu Besuch. Von 2000 bis 2004 absolviert Verdet ein Studium der Plastik und Audiovisuellen Kunst an der Hochschule der Bildenden Künste in Saarbrücken. Anschließend ist sie dort bis 2006 Meisterschülerin bei Prof. Christina Kubisch, einer wichtigen Vertreterin von Performance, Videokunst und Klanginstallationen. Zahlreiche Ausstellungen und ortsbezogene Projekte machen seit 2001 Verdets Schaffen beim kunstinteressierten Publikum bekannt. Im Sommer 2016 zeigte das Hesse-Museum in Gaienhofen eine ambitionierte Ausstellung ihrer Werke im Dialog mit den Arbeiten ihrer Großeltern.

Im Mittelpunkt ihres künstlerischen Schaffens steht die kritische Auseinandersetzung mit zeitaktuellen Themen. Dabei agiert Verdet als eine wache Beobachterin gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen und hinterfragt diese Prozesse gezielt in ihren Arbeiten. Ihr schöpferisches Tun entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen Zeichnung, Rauminstallation, Objektkunst und Soundkomposition. So begegnen uns abstrakte, teils großformatig angelegte Strukturzeichnungen, die sich ganz auf die Eigenkraft von Linien und Punkten konzentrieren. Kombiniert werden diese oftmals wandfüllenden, auch auf dem Boden platzierten und seriell angelegten Arbeiten mit Objekten oder Alltagsgegenständen, die als komplexe, sorgfältig arrangierte Installationen in den Raum intervenieren und den Betrachter zu einem gedanklichen Dialog mit dem Gezeigten animieren. Experimentelle Klang- und Geräuschkulissen mit Soundfragmenten aus Natur, Umwelt und Technik verdichten die Atmosphäre und erweitern sie in akustische Dimensionen.

Die Arbeiten, die Verdet in dieser Schau präsentiert, kreisen hauptsächlich um die brandaktuellen Ereignisse der Flüchtlingskrise und des Terrors. „Kunst hat nicht die Aufgabe politische Themen plakativ in Szene zu setzen, sondern sollte dem Betrachter die Möglichkeit geben, die gesellschaftliche und politische Realität aus einem anderen Blickwinkel zu sehen.“ So erklärt die Künstlerin ihre inhaltliche Intention. Formal agiert sie dabei als Grenzgängerin zwischen Wand und Raum, Zeichnung und Objekt, visueller und akustischer Kommunikation.

In ihrer Installation mit dem Titel „Campscape“ inszenieren eine monumentale Filzstiftzeichnung und 9 Miniatur-Igluzelte eine zunächst rätselhaft anmutende, irritierende Konstellation. Hier nimmt Verdet konkreten Bezug zur Situation von Flüchtlingen, die an der türkischen Grenze zu Syrien in riesigen Massenlagern untergebracht sind, und deren Berichte und Erzählungen sie unmittelbar in ihre Bildsprache mit einfließen lässt: So steht die große Zeichnung mit roten Dreieckselementen sinnbildhaft für ein scheinbar endloses Zeltlager und zugleich für ein, wie Verdet es nennt, „Modell für das Verhältnis von Masse und Individuum“. Die davor akkurat aufgereihten leeren Minizelte, bei denen es sich um Katzenzelte aus dem Tierbedarf handelt, spiegeln sowohl den „militärischen Charakter solcher Flüchtlingscamps, als auch unsere westliche, freizeitorientierte Gesellschaft, die durchaus in der Lage ist Katzenzelte zu produzieren“. Es entsteht eine fast absurde Situation, erfüllt von ironischer Brechung und verstörender Beklemmung.

Ein Statement mit zeitkritischer Botschaft setzt Verdet auch in ihrer vielteiligen Rauminstallation „Die Schutzflehenden“, die aus rund 150 Atem-Schutzmasken, einer Boje, einer Serie von Küstenlinien-Zeichnungen und einer Soundkomposition besteht. Dazu stellt Verdet die Frage in den Raum: „Schutz suchen, Schutz anbieten, sich selber schützen – ist die Verschärfung der Kontrollen an unseren Grenzen durch Organisationen wie Frontex die Lösung? Riskieren wir nicht den Zorn des Zeus, wenn wir nicht den Schutzflehenden mit allen Mitteln zu helfen versuchen?“ Der Titel dieser Installation wurzeln in dem Text „Die Schutzflehenden“, in dem der antike Dichter Aischylos im Jahre 463 v. Chr. mahnt: „Wir sollen hier im Lande wohnen frank und frei, angriffgesichert, aller Welt in heilger Ruh; Es soll hinweg kein Fremdling, kein Einheimischer uns reißen; würde je Gewalt an uns versucht, so sollte, wer von den Bürgern nicht zu Hilfe eilt, ehrlos erklärt sein und verbannt durch Volksbeschluß.“ Das dazugehörige Klangarrangement lässt Meeresrauschen hören, das vom Geräusch eines ständig im Kreis fahrenden Motorbootes überlagert wird. Steht das Plätschern der Wellen für Sorglosigkeit und Ferienidylle, so verweist das nie ankommende Boot auf diejenigen, die vergeblich versuchen dieses rettende Ufer zu erreichen.

Eine minimalistische Ästhetik prägt generell die Zeichnungen von Véronique Verdet. Diese entstehen nach Auskunft der Künstlerin sowohl intuitiv und spontan als auch konzeptuell durchdacht. „Der Bilderflut, der wir Tag für Tag ausgesetzt sind und die dazu führt, dass diese Bilder an Kraft einbüßen, setze ich radikal reduzierte Zeichnungen entgegen“, erklärt sie zu diesen Werken, die in einem langwierigen, gleichsam meditativen Arbeitsprozess mit Tusche und Filzstift Gestalt annehmen und in denen der Faktor Zeit eine wesentliche Rolle spielt. In den gegenstandsfreien Zeichnungen erkundet Verdet das Spannungsverhältnis von Punkt und Linie zu Fläche. Beispielhaft dafür steht die friesartig konzipierte Arbeit „The Road“ (2016), die aus ca. 30 Tafeln besteht. Wiederholung und Verdichtung, Fülle und Leerräume, Dynamik und Rhythmus sowie deren Ausbreitung ins Unendliche bestimmen die außergewöhnliche Wirkung dieser raumgreifenden Serie, in der Verdet – wie sie sagt – „nur mit Hilfe von Punkten eine nicht enden wollende Strasse“ auf das Papier bannen will. Gleichzeitig kann der lebendige Organismus der Punkte auch als Metapher für das Unterwegs-Sein von Flüchtlingen gelesen werden, die als Heimatvertriebene im weiten Raum des Unbekannten auf Wanderung sind und eine „imaginäre geographische Landkarte bilden“.

Mit dem Thema Gewalt und Terror beschäftigt sich Verdet in der Collagenserie „Promenade des Anglais“, die das Attentat an der Strandpromenade von Nizza im Juli 2016 zum Inhalt hat. Mittels der Verknüpfung von Fotos aus der Tagespresse und gezeichneten Punkten aus blauer Tusche transformiert Verdet das furchtbare Geschehen in eine offene, zwiespältige Atmosphäre zwischen Schrecken und Schönheit. So verweist die blaue Farbe „auf das Meer und die berühmten blauen Stühle der Promenade, die mit Freizeit und Wohlbefinden assoziiert werden und nicht mit dem Terror, der an diesem 14. Juli stattgefunden hat“. Wie in ihren übrigen Arbeiten hebt Verdet den problembehafteten Bildgegenstand auf eine ebenso künstlerisch ansprechende wie intellektuell reflektierte Ebene, die dem Betrachter immer auch neue Denkräume eröffnen möchte.

Hans Lankes, dessen Arbeiten hier in den Erdgeschossräumen zu bewundern sind, wird 1961 in Bogen in Niederbayern geboren. 1978 beginnt er mit seiner künstlerischen Arbeit, 1980 ist er im Atelier des Bildhauers Hans Rieser in Straubing und in der dortigen Bronze-Kunstgießerei tätig. Bis 1993 machen zahlreiche Ausstellungen auf sein Schaffen aufmerksam. Danach unterbricht er seine künstlerische Tätigkeit und nimmt sie 2009 mit einem erfolgreichen Neubeginn als Papierschneider wieder auf.

In seinen figurativ-gegenständlich angelegten Papierschnitten entwirft Lankes traumartig anmutende, surreale Bildwelten, die stets rätselhaft bleiben und keine eindeutigen Interpretationen zulassen. Seine bisweilen bizarr und grotesk wirkenden Kombinationen von vertrauten und widersprüchlichen Motiven bieten vielschichtige Wahrnehmungsebenen zwischen sichtbarer Wirklichkeit und irrealer Vorstellung.

Meist ohne Vorzeichnung schält Lankes seine Sujets mit dem Cutter oder Skalpell in einem durchgängigen Arbeitsprozess präzise aus dem schwarzen Papierbogen. Nachträgliche Korrekturen oder Veränderungen sind nicht möglich. „Kein Lavieren, keine Tricks. Es geht um Konzentration und Konsequenz. Was geschnitten ist, ist weg“, erklärt er seine Vorliebe für die besondere Technik des Messerschnittes. Und weiter betont er: „Das Weggeschnittene ist genauso wichtig, wie das Stehengelassene. Der Raum bzw. die Wirkung entstehen auch durch das, was nicht mehr da ist.“ Und so entwickeln sich seine Arbeiten aus dem permanenten Mit- und Gegeneinander von positiver und negativer Form, von fragilen Linien und schmalen Graten, von wuchtigen Flächen und scharfkantigen Konturen. Der ausgeschnittene dunkle Motivbogen wird anschließend auf helle Leinwand, Hartfaserplatte oder auch direkt auf die Wand montiert, so daß eine flache, aber sichtbare Reliefebene entsteht, die dem Bild eine subtile Schattenwirkung und eine räumliche Dimension verleiht. In neueren Arbeiten färbt Lankes zusätzlich die Rückseiten der Papiere ein, wodurch sich ein verblüffender farbiger Leucht-Effekt einstellt.

Lankes Bildschöpfungen bewegen sich im Aktionsfeld zwischen Zeichen und Symbolen, zwischen humorvoller Ironie und skurriler Irritation. Viele seiner Bilder driften ins Phantastische und Verspielte, sind erfüllt von expressiver Erfindungsfreude wie auch von aggressiver Ästhetik. Uns begegnen kühne Figuren- und Gebäudedarstellungen, die in ihrer geheimnisvollen Formkombination als hybride Gebilde in Erscheinung treten. So erblicken wir bärtige Männerköpfe, in deren Antlitz weitere Köpfe und Gesichter eingewoben sind; wir sehen verirrte Surfer auf einsamen Klippen, stille Interieurs oder eigenwillige Architekturfragmente, die mit ihren wilden Brechungen und Schichtungen unbewohnbar scheinen. Diese Architekturphantasien bewegen sich zwischen konkreter Konstruktion und abstrakter Dekonstruktion. Gelegentlich überziehen auch Textzeilen ganze Gesichter und laden diese mit persönlicher inhaltlicher Bedeutung auf. Lankes beschwört paradoxe Bilderzählungen, die in ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit ebenso faszinierend wie erschreckend sind.

Eine kompromisslose Reduktion ins Zeichenhafte, verbunden mit einem sicheren Gespür für fragile Muster und Strukturen, kennzeichnen das Gestaltungsprinzip der Papierschnitte. Es öffnen sich imaginäre Bildwelten, voll abgründiger Komik und visionärem Hintersinn. Nicht selten kippt das Harmlose unvermittelt ins Irritierende. So beispielsweise in der Serie der „Surfer“ von 2014, in der die Wellenreiter aus ihrem Element von Wasser und Wind verbannt wurden und sich als isolierte Personen unversehens in einer befremdlichen Umgebung wiederfinden, die jeder Logik widerspricht. Plötzlich sind die schäumenden Wellenkämme zu durchbrochenen Felsen, ja zu wuchernden Mikroorganismen, mutiert, die ein gleichsam unkontrolliertes Eigenleben zu führen scheinen. Hinter der perfekt durchgearbeiteten Oberfläche tut sich eine zweite Bedeutungsebene auf, in der sich das Gezeigte unvermutet in sein Gegenteil, das vermeintlich Banale ins Erstaunliche, kehrt.

Vieldeutig begegnet uns auch Lankes neueste Serie „Cloud“, die als große Wandinstallation aus knapp 20 Einzelschnitten konzipiert ist. Eigentümlich organoide Formgebilde, mit geringem Abstand zur Wand befestigt, durchschweben den Raum wie ein bizarrer Schwarm und werfen farbig bewegte Schatten auf die Flächen. Der Titel Cloud verweist einerseits auf das Naturelement der Wolke, andererseits spielt er auf die Metapher der digitalen Wolke an, in der wir unsere Daten speichern können, die anschließend rund um den Globus von anderen Rechnern jederzeit abgerufen werden können. Bei Lankes verwandelt sich diese virtuelle Cloud in einen wandfüllenden Organismus, der eine nicht greifbare Autonomie entwickelt.

Lankes Werke bestechen durch ihre souveräne Ausführung und ihre kraftvolle, fast plakative Wirkung. Eine suggestive Energie spricht aus ihnen. Lankes entkleidet die traditionsreiche Technik des Papier- oder Silhouettenschnittes, der vor allem in der Volkskunst des 18. und 19. Jahrhunderts seine Höhepunkte feierte, von jeglicher schmuckvoller Dekoration und gelangt zu schnörkellosen und zeitgemäßen, auf das Elementare verdichtete Bildlösungen. Darin halten sich spielerische Leichtigkeit und ernsthafte Nachdenklichkeit die Waage. Lankes selbst sieht in seinen Werken „autonome Arbeiten, die für sich selbst stehen, und die Räume öffnen, Ausblicke ermöglichen bzw. die Betrachter so anritzen, daß sie nicht unberührt vorbeigehen können.“

Beide Künstler agieren mit ihren Arbeiten im Kräftefeld zwischen Wand und Raum, Linie und Fläche, Form und Botschaft. Vor unserem Auge entstehen aussagekräftige Gesamtkunstwerke, die alle Sinne ansprechen und die immer die Kommunikation mit dem Betrachter suchen. Véronique Verdet und Hans Lankes arbeiten mit assoziationsreichen Wahrnehmungsebenen und ihre Werke halten stets die Balance zwischen eindringlicher Ästhetik und unvermuteter Irritation, Schönheit und Erschrecken. Sie halten kritische Distanz, hinterfragen Zustände und Prozesse, lassen die Dinge in einem anderen Licht erscheinen und fordern vom Betrachter ein vertieftes Nachdenken über Motive und Inhalte. Verdets Zeichnungen und Raumentwürfe wirken wie analytische Versuchsanordnungen, in denen Hintergründe und Zusammenhänge sensibel aufgedeckt und neu zur Diskussion gestellt werden. Lankes Messerschnitte gewinnen durch den Blick in Abseitiges und Abgründiges ihre ganz spezielle Aura. Beide Künstler reflektieren, so unterschiedlich ihre Medien und Bildsprachen auch sein mögen, das Leben im Hier und Heute, mit all seinen krassen Widersprüchen und Extremen, mit seinen Fragestellungen und Reibungspunkten, seinen Paradoxien und Absurditäten. Ihre Kunst erstaunt und irritiert, und das ist gut so!

© Dr. Andreas Gabelmann, Kunsthistoriker, Radolfzell

Wir danken der Sparkasse Singen-Radolfzell und dem Weinhaus Baum für die freundliche Unterstützung.